Laudatio auf den Theatermann René Pollesch aus Anlass der Verleihung des Arthur-Schnitzler-Preises 2019 von Ronald Pohl

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Arthur Schnitzler-Gesellschaft

Als Arthur Schnitzlers erste wahrhaft moderne Schmerzensfigur wollen wir einen berüchtigten Artisten des Augenblicks ansprechen: Anatol, den Haupthelden eines ganzen Zyklus von Szenen, entstanden von 1888 bis 1892, von denen manche geradezu ausgewachsene Einakter ─ oft überaus heiteren Inhalts ─ darstellen.

Auf Anatol, die Figur, trifft vielleicht zu, dass sie ihr eigener bester Kurgast sei: insofern sie alle Stimmungsbäder genießt, wenn sie nur ahnt, dass niemand ihr das Wasser reichen kann. Anatol ist als Erotiker ein unverbesserlicher Egoist; um jedoch als Egoist über die Grenzen des Wiener Wirkungskreises hinaus Karriere machen zu können, gebricht es diesem charmanten Filou an einer elementaren Grundvoraussetzung: an der Identität mit sich selbst.

Anatol kann binnen einer Minute seine Ansicht über einen so heiklen Gegenstand wie die erotische Treue komplett ändern. Kunststück: Treue zu sich selbst würde ja voraussetzen, dass die äußernde Person zu dem, was sie ausmacht, in einem Verhältnis der Kontinuität steht. Doch für Anatol unterliegt alles Seiende einem Bann. Indem dieses sich für ihn zur bloßen Empfindung relativiert, gehört es dem Augenblick an ─ nicht jedoch einer Sphäre, in der das Ich auf die überzeitliche Wahrheit seiner Einsichten hoffen dürfte.

Das Ich als oberster Bezugspunkt aller neuzeitlichen Philosophie scheint somit hinfällig geworden. Von ihm gilt, was der epochale Fin-de-siècle-Denker Ernst Mach mit Blick auf die Vorgänge in der Psyche festhielt: Das, was im alltäglichen Sprachgebrauch „Ich“ heißt, sei als eine Art Relaisstation anzusehen. Es ist nichts als die Summe der Wahrnehmungen, die sich für die Dauer eines Augenblicks in einem Menschen zufällig kreuzen.

Anatol kann somit, in Hinblick auf seine Liebespartnerinnen, getrost davon absehen, auf Treue zu dringen. Was solche Figuren vermöge ihrer Diskontinuität nicht wissen können, braucht sie auch nicht heiß zu machen.
Gut hundert Jahre später macht der Gießener Institutszögling Rene Pollesch von Machs und Schnitzlers Erkenntnissen den denkbar zügellosesten Gebrauch. Er stellt in seinen Stücken ─ sind es mittlerweile grob geschätzt 36? 68? Oder nicht doch eher 121? ─ nicht etwa die Partikel von Figuren sicher. Das hieße ja bloß, etwas verloren zu Gebendes – das abendländische Subjekt, den heteronormativen Kerl, den kraftstrotzenden Helden – aus dem Geist der Restaura-tion heraus zu rekonstruieren. So landet letztlich jedes herkömmliche Theaterstück bei der Wiederherstellung der schönen Seele. Sei diese, wie uns Schnitzler gezeigt hat, auch noch so korrumpiert oder, harmloser: in Illusionen über ihre Integrität und Moralität befangen.

Bei Pollesch aber spricht die Illusion durch die Menschen hindurch. Nicht die Figuren auf der Bühne setzen Sprechmasken auf (diejenigen des Charakters bildeten ohnehin bloß bürgerlichen Mummenschanz), sondern es sind die ideologischen Verlautbarungen, die sich ihrerseits die Figuren überstülpen.

Es sind die Einsichten der Theorie, die sich Menschen wie Flüstertüten vorhalten; und zwar Personen aus Fleisch und Blut, Starschauspieler wie Sophie Rois oder Martin Wuttke, die diese wunderbar abstraktionsgesättigten Pollesch-Sätze aus sich herausschütteln wie andere Menschen ─ die dann deutlich lebensechter wären ─ zu Einsichten geläuterte Verdauungsprodukte.

Die Theaterstücke René Polleschs sind immer auch Stoffwechselprodukte. Als solche enthalten sie einen mehr als nur zarten Hinweis auf die Verwertungsgesetze des Marktes: Theater, genauer gesagt: Bühnen wie der Prater der Berliner Volksbühne, aber auch sonst alle relevanten Staatstheater von Stuttgart bis Wien, fungieren als Umschlagplätze für wahre Brocken von Theorie.
Für jedes der ungemein beschwingten, mit Populärkultur formlich aufgeladenen Pollesch-Stücke gilt der Slogan der verschollenen Hamburger Indie-Rockband Kolossale Jugend: ,,Der Text ist meine Party“. Der Wechsel der Partygäste aber hat ungemein viel zu tun mit der Schnitzler’schen Preisgabe der am Theater immer noch so häufig anzutreffenden Vorstellung, das Subjekt sei der unversehrte Souverän seiner selbst.

In dem Pollesch-Stück ,,Schmeiß dein Ego weg!“, uraufgeführt an der Berliner Volks-bühne am Rosa-Luxemburg-Platz 2011, gelangen drei Schauspielerlnnen und ein Chor gemein-sam zu der Auffassung, dass alle Vorstellungen vom Vorhandensein einer menschlichen Seele doch als sehr irrig anzusehen seien. Die Seele, sagt ,,M“, gespielt von Martin Wuttke, ist nichts anderes als die „Außenbeziehung des Körpers zu sich selbst“. Sie ähnle dadurch einem Geld-schein. Dieser werde schließlich auch nicht um seines Materialwertes willen angesehen, sondern wegen seines ihm beigelegten, gleichsam verinnerlichten Wertes.

Gedanken wie diese entnimmt René Pollesch den Büchern und Schriften so verschie-denartiger Denker wie Jean-Luc Nancy, Donna Haraway, Michel Foucault oder Dietmar Dath. Sie helfen ─ verteilt an wunderbare Schauspieler und von diesen zu flackerndem Leben erweckt ─ nachträglich zu verstehen, warum es ein praktizierender Arzt wie Arthur Schnitzler, rund 130 Jahre vor Pollesch, in Ansehung der Seele(n) bereits mit falschen Fuffzigern zu tun bekommen haben könnte.

Vor allem aber eint Pollesch mit Schnitzler die mehr oder minder deutlich ausgedrückte Intuition, dass dem Kapitalismus, gleich in welchem Stadium seiner allseitigen Entwicklung, allezeit das nämliche Kennzeichen eignet: das Auseinandertreten von Sein und Schein, das in der bürgerlich-liberalen Welt des Wiener Fin de siècles noch den Zerfall des sittlich verantwortlichen Individuums meinte.

Im neoliberalen Kapitalismus wäre es freilich ein Humbug, mit dem bürgerlichen Subjekt ein ähnliches Federlesens zumachen. René Pollesch stellt zur Sicherheit den Zwang zur Innovation, dem sich die Vertreter der postmodernen Wirtschaft unterwerfen, gleich selbst in den Schatten. Er bringt die Theorie zum Klingen, indem er sie in ihrer ganzen Zufälligkeit, Stück für Stück, Partikel für Partikel, der Aneignung durch die Schauspieler aussetzt. Hurra: Der ganze Überbau wird Basis.

Aus der Kontingenz solcher Moden und benennenden Manien entsteht ein neuer Kosmos ─ ein tönendes All, in dem die Begriffe nach alter Sphären Weise singen! Der Markt muss sich schämen, weil ein wunderbarer Theatererfinder ihn in Sachen Produktivität noch locker in den Sack steckt.
Und falls nun jemand auf die Idee kommen sollte und Arthur Schnitzler für gewisse Redundanzen seines Frauenbildes nachträglich kritisieren wollte: René Pollesch zeigt, wie viel und manchmal: wie wenig mit der Zuspitzung des emanzipatorischen Diskurses für die Sache des Fortschritts gewonnen ist.

Besuchen Sie daher dieser Tage noch die ,,Deponie Highfield“, ehe es zu spät ist. Schauen Sie sich überhaupt alle René-Pollesch-Produktionen an, wo immer Sie sie zu sehen bekommen: Sie erkennen sie unfehlbar an den sloganisierenden Titeln. Mit deren Hilfe tritt ihr Autor und Urheber mit der Sprache der Werbung in eine Art von Fake-Wettbewerb. Alles so schön bunt hier! Mit Pollesch-Stücken ist es wie mit Ich-Partikeln des heiter-unseligen Anatol: Was heute noch gilt, weicht am morgigen Tag einer neuen, ebenso grellbunten und gescheiten Einsicht!

Ich gratuliere René Pollesch sehr herzlich zur Zuerkennung des Arthur-Schnitzler-Dramatikerpreises 2019.

Ronald Pohl